60 Jahre Werkgemeinschaft Musik


Anmerkungen zu einem beeindruckenden Konzept

vorgetragen von Dr. Karl Kühling am 19. Mai 2007 in Altenberg



Lieber Klaus Andrees, liebe Mitglieder, liebe Kollegen und Freunde in der Werkgemeinschaft Musik, sehr geehrte Gäste, sehr geehrte Festversammlung!

Erlauben Sie mir, dass wir im von so vielen so häufig propagierten Jahr der Familie 2007 gemeinsam ein naheliegendes Bild betrachten: Wer sich heute Abend hier in Altenberg in unseren Reihen umschaut, der könnte den Eindruck gewinnen, hier treffe sich eine vielköpfige, Vitalität versprühende und durchaus heterogene Familie zum runden Geburtstagsfest. Das quirlige Völkchen bildeten, wie sich das gehörte, die Großeltern und ihre Geschwister, die Eltern, Tanten und Onkel, die Kinder, Töchter und Söhne, Schwiegersöhne, Nichten, Neffen, Vettern, Basen, Enkel und vielleicht auch manch neuer Freund, manch neue Freundin, die wollten und würden bald dazugehören. Da wären natürlich auch einige merkwürdige Sippenangehörige dabei, komische Figuren, vielleicht sogar eine femme fatale? Und dann selbstverständlich auch noch die Urenkel, vielleicht die umtriebigsten und neugierigsten unter uns. Und der Betrachter könnten sich fragen: Was ist das eigentlich für eine Familie? Habt ihr einen Stammbaum, damit ich ein wenig Durchblick gewinne, oder ein großes Sippenfoto?

Ich selbst will mich in dieser Werkgemeinschaftsfamilie bei der Generation der Enkel positionieren und bitte um Verständnis, dass meine Bildbetrachtung aus dieser Perspektive erfolgen muss, mit manchmal etwas wenig Respekt für die Elterngeneration (Ironie), aber großer Sympathie für die der Großeltern. Meine Familienphase beginnt 1985, als ich - Herrn Professor Schepping gesundheitshalber als Orchesterleiter vertretend - zum ersten Mal mit meiner Frau zur Wies fuhr. Die Wies - ein "Sommermärchen", immerwährend (mit Glogger, Guggemos, Kurat, Moorsee etc.)! Für mich ein 14 Jahre andauerndes Sommermärchen - keine schlechte Zahl für einen Nothelfer.

In meiner aktiven Werkgemeinschaftszeit erlebte ich seitdem in der Wies und in den verschiedenen Gremien dieser Organisation eine ganze Reihe faszinierender Menschen; prägende Persönlichkeiten, auch aus der Gründerzeit, aus der Großelterngeneration: - Sie verzeihen, wenn ich nunmehr immer wieder Namen ins Spiel bringe, aber Namen sind Nachrichten, und in der Werkgemeinschaft verbinden sich mit Namen automatisch Erinnerungen, Begegnungen, Merk-Würdigkeiten. - Also nenne ich Frauen und Männer, denen ich seit 1985 begegnen durfte und die mir halfen, das Besondere der Werkgemeinschaft nach und nach zu begreifen. Dies ist natürlich nur ein sehr subjektiver Ausschnitt.

  • Cläre Fasbender - vor zehn Jahren feierte die Mitgliederversammlung sie hier als Ehrenmitglied. Im selben Jahr beendete sie - nach 50 Jahren - ihre Mitarbeit im "Führungskreis", in jenem Gremium, in dem sich Tagungsleiter und Referenten treffen, um Erfahrungen auszutauschen, neue Ideen zu entfalten und die Weichen für deren Umsetzung zu stellen. Cläre Fasbender - sie ist im Juni 2000 verstorben - gehörte im Januar 1947 als Leiterin eines Singkreises zu den ersten Teilnehmern, die "von allen Enden der drei Westzonen" - so heißt es im Tagungsbericht von Ottilie Dinges und Johannes Aengenvoort - hierher nach Altenberg eingeladen worden waren. Sie berichtete immer wieder von diesem harten Winter 1947, der harten und entbehrungsreichen Zeit gut eineinhalb Jahre nach dem Ende der furchtbaren Diktatur und dem schrecklichen Krieg, aber sie erzählte begeistert, wie hier in Altenberg ein neuer Geist des Aufbruchs herrschte. Ihre Begeisterung mündete in ein langjähriges Engagement als Referentin für Spiel und Tanz, sinnfällig erlebbar in den von ihr unermüdlich variierten Polonaisen.
  • Fritz Schieri - für mich der Nestor unter den Werkgemeinschafts-Vorsitzenden, mit denen ich zusammenarbeiten durfte. Mit seiner Gradlinigkeit erteilte er viel klugen Rat, seiner natürlichen Autorität und seiner großen Lebensleistung und Erfahrung zollten wir den gebührlichen Respekt, und er wiederum ermunterte uns stets motivierend. Vorbildlich waren seine klaren Worte, sein unermüdlicher Einsatz, ich erinnere daran, dass er noch im hohen Alter die Notenbibliothek in der Wies archiviert hat, damit seine Nachfolger darauf - gut sortiert - zurückgreifen können.
  • Mein erster Werkgemeinschafts-Vorsitzender ist Professor Martin Kemper gewesen - ein feinsinnig nachdenklicher und humorvoller Freund. Er gehört zur bereits Generation der Söhne, denn schon sein Vater Josef Kemper war als Stimmbildner seit 1947 bei der Werkgemeinschaft. Martin Kemper kennt die Werkgemeinschaft subtil, von innen und ist ein kreativer Kopf, der zur Genese der Werkgemeinschaft steht. Noch 1996 schreibt er: "Als Aufgabe sahen die Gründer Pflege, Förderung und Weiterentwicklung der Musik im Rahmen einer christlich (zunächst vorwiegend katholisch) geprägten Jugend- und Kulturarbeit. Im Mittelpunkt standen das Singen und Musizieren geistlicher und weltlicher Musik, die Erneuerung der Liturgie, vor allem in bezug auf deren Musik, und vielfältige musikpädagogische Fragestellungen. - Dieser Zielsetzung ist die Werkgemeinschaft im großen Ganzen treu geblieben." Martin Kemper treibt aber auch frühzeitig die Sorge um eine zunehmend aktueller werdende Frage um, dass die Werkgemeinschaft den Blick immer wieder auf die Jugend zu richten habe, weil deren musische Bildung im Focus aller Aktivitäten stehen solle. So stellt er 1994 anspruchsvoll fest: "Die generelle Zielsetzung der Werkgemeinschaft muss ständig aktualisiert werden und deutlich auf die Zielgruppe Jugendliche ausgerichtet sein..."
  • Karl Berg, von dem die Familie und viele Freunde in diesem Januar Abschied nahmen, ist vielleicht der älteste Sohn in der Familienchronik, er begann 1956 in der WG. Er war ein Großmeister des Offenen Singens, voller Ideen für ein folkloristisch begeisterndes Musizieren von Instrumentalisten und Sängern am frühen Tag, ein Chorleiter, der begeisternd und unermüdlich wirkte und in den 80er-Jahren mehrere Sommerwochen nacheinander betreute. Damals schrieb das Schongauer Tagblatt in einer Konzertankündigung von der "Berggemeinschaft Musik". Karl Berg erzählte mir viel von den ersten Anfängen in dem Pfarrhaus, das direkt an die Wieskirche angebaut worden ist, und von den Quartieren in den umliegenden Bauernhöfen. Seine Treue zur Wies überdauerte Jahrzehnte, und dies gilt auch für sein "Winterbrauchtum", das weihnachtliche Singen in St. Thomas, das seine Tochter Agnes Kraemer nun weiterführt.
  • Heinz Bremer lenkte über viele Jahrzehnte im Hintergrund die Geschicke der WG als ehrenamtlicher Geschäftsführer, später war er auch ihr Vorsitzender. Heinz Bremer - ebenfalls aus der Generation der Söhne - beeindruckte mich nachhaltig, als er berichtete, wie er am Tag der Beerdigung von Johannes Aengenvoort im Juni 1979 den Auftrag erhielt, die so wichtige gesamtdeutsche Kirchenmusikertagung - von Frau Johanna Schell u. a. ins Leben gerufen - fortzuführen. Diese Tagung wurde seit 1972 in Ost-Berlin durchgeführt und war in den Tagen der sozialistischen Diktatur ein Leuchtturm für die ostdeutschen Kollegen. Für Heinz Bremer, der in den 90er-Jahren auch die Leitung einer Sommerwoche übernahm, war es sicherlich bewegend, zu erleben, dass es auch mehr als ein Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer immer noch eine Weiterführung der Kirchenmusikertagung gab.
  • Max Frey - wiederum aus der Generation "jüngere Söhne" - ein exzellenter Fachmann für das Chorsingen, machte vor gut zehn Jahren darauf aufmerksam, dass "Jugendliche gerne in Jugendchören singen und nicht mehr so gerne in generationsübergreifenden Chören". Er erläutert, dass sich andernorts (in Schweden) neben vielen Neugründungen junger Ensembles mehr und mehr Seniorenchöre etablierten, und Max Frey regte an, unsere Situation diesbezüglich zu reflektieren. Wie ich einem Hinweis der KNA in der FAZ vom 2. Januar 2006 entnehme, hat Michael Witt mit der Chorgründung der "Ökumenischen Seniorenkantorei Berlin" einen entscheidenden Teil dieses Ratschlag eifrig in die Tat umgesetzt.
  • Barbara Schmidt - Generation "Enkel": Als Referentin für "Szenische Gestaltung von Musik" lerne ich sie in der Wies kennen. Sie hat eine kleine Tasche mit Requisiten, ein paar Schals, Shirts und Tüchern mitgebracht, sowie einen immens großen Koffer voller Ideen. Barbara Schmidt entfaltet faszinierend das Element "Spiel" zur gesungenen und getanzten Musik, entdeckt in ihrer Gruppe ein Kreativpotential für die Werkwoche von sinnstiftendem und gemeinschaftsförderndem Wert.
  • Ludwig Lang: Er ist der erste Referent für Tanz, den ich in der Wies erlebe. Mit Akribie präsentiert er unbekannte Folklore und hält uns in Schwung, eine Gruppe im Arbeitskreis und abends das Plenum. Ludwig Lang steht in einer Reihe mit vielen Referenten für den Tanz - Agnes Kraemer gehört ebenfalls dazu. Der Tanz ist ein von Günter Bernert gesetzter Schwerpunkt in den Werkwochen, ein willkommener Ausgleich nach ausgiebigen und intensiven Proben. Zu Bernert später noch mehr...
  • Ulrike Sahm - (Generation "jüngste Enkel"): Sie steht als Teilnehmerin im Chor und als Altistin (auch solo) für die vielen, denen die Werkgemeinschaft ans Herz gewachsen ist, die sie durch ihr Mittun tragen - rekordverdächtig oft, und die konstruktiv die Entwicklung begleiten. Mit ihr in einer Reihe sehe ich Hubert Pfeil, Thomas Schneider, Burkhard Kölsch, aber auch viele andere Ungenannte.
  • Berthold Hummel - ihm begegnete ich hier beim Jubiläum zum 50. Geburtstag, außerdem in Würzburg. Er ist - wie Karl Berg und viele andere auch - ein Beleg dafür, dass das Bild von der Familie bei der Werkgemeinschaft ganz gut passt. Berthold Hummel schilderte mir anschaulich, wie sich dem Spiel in Flötenkreisen allmählich neue Klangfarben hinzu gesellten, wie Kammermusikgruppen und schließlich Orchesterarbeit erwuchsen. Das differenziert reflektierten Singen wurde nach und nach ergänzt durch das spezialisiert betreute Instrumentalspiel, wie wir es nunmehr in den großen Sommerwochen kennen. Und Bertold Hummel mit seinem Können darf als Vorreiter dieser Entwicklung gesehen werden.
  • Gleich neben Berthold Hummel steht Wolfgang Erpenbeck, mit Karl Linke verantwortlich für die Wochen in Ellwangen. Wolfgang Erpenbeck hat nicht nur über viele Jahrzehnte als Orchesterleiter fungiert, sondern hier in Altenberg mit einem Kammermusikkurs subtile Binnendifferenzierung betrieben.
  • Ausführende Referenten im Instrumentalspiel bei dieser Differenzierung sind sehr viele hervorragende Fachleute, ich nenne stellvertretend Klaus Martin Heinz, Stefanie Sassenrath und, heute unter uns, Gernot Süßmuth und Michael Frangen.
  • Wilhelm Schepping - ebenfalls aus der Generation Söhne - kann diese Entwicklung bestätigen. Auch in den von ihm betreuten Wochen wird vielseitig das Instrumentalspiel gepflegt. Die erarbeitete Liste der Musikliteratur ist ansehnlich, und darüber hinaus die Pflege der Kammermusik ein hohes Gut. Schepping vererbte mir seine Wiestätigkeit, - ein nobler, wenn auch gesundheitlich notwendiger Schritt - und seinen damaligen Ratschlag will ich gerne in Erinnerung rufen: "Haben Sie stets einen Koffer voller Noten dabei, die Teilnehmer wollen rund um die Uhr musizieren!" Über Wilhelm Schepping will ich hier nicht mehr berichten, denn dies können sie besser nachlesen in der Festschrift, mit der Günter Noll und andere ihn im vergangenen Winter zum 75. Geburtstag ehrten.
  • Wolfgang Bretschneider - ebenfalls ein Sohn: In der Kursausschreibung meiner ersten Wies heißt es: " Dr. Wolfgang Bretschneider - Gottesdienste / Orgelinterpretationsseminar". Das liest sich etwas sperrig. Aber was sich hinter diesen Worten verbirgt, den Priester und Musiker, den muss man erlebt haben. Er ist geistlicher Begleiter unserer Woche - und hier steht Bretschneider in einer Reihe mit wiederum sehr vielen, wie P. Dr. Richard Kliem, Engelbert Felten, Konrad Weigele, Dietmar Schmidt, Winfried Pilz, Prof. Dr. Theodor Seidl und - heute - mit Ihnen, P. Bernhard Paal. Die Aufgabe ist für die Geistlichen ist vielseitig, die Erwartung hoch:
    • "die Werkgemeinschaft soll zu einer positiven Kirchen- und Religionserfahrung verhelfen;
    • der ökumenische Aspekt sollte selbstverständlich werden; [...]
    • die religiöse Arbeit auf Werkwochen kann Modellcharakter haben, vor allem in Hinblick auf alternative Gottesdienstformen;
    • Gottesdienste sollen die Lebenssituation der Teilnehmer aufgreifen und vom Glauben her deuten; [...]
    • Die Thematik der erarbeiteten Musik soll einbezogen werden in Gottesdienste;
    • Geistliche Leiter von Werkwochen sollen als "Geistliche Begleiter" sensibel und fachlich souverän, unbedingt "Teilnehmer und Mitmacher" sein und kommunikative Kompetenz besitzen; [...] Solch hohe Ansprüche werden mitunter auch für die Tagungsreferenten anderer Provenienz formuliert.
      Im Rückblick dürfen wir uns heute an schöne und gute Gottesdienste erinnern und für sehr vieles, was wir an religiöser Erfahrung hinzugewannen, danken.
  • Heinz-Albert Heindrichs, Abteilung "Söhne": in unseren ersten Wieswochen bin ich oft von der ungewöhnlichen Vielfalt des Angebots überrascht worden. Dass Gesang und Instrumentalspiel ineinander griffen, war selbstverständlich, auch, dass als ein unverzichtbares Element immer der Tanz gepflegt wurde. Ebenfalls empfand ich es als selbstverständlich, dass die gemeinsame Feier von Gottesdiensten ein wohltuender Höhepunkt im Tagesgeschehen einer Werkgemeinschaftsveranstaltung war. Es ist gut, dass auch diese Begegnung in Altenberg auf die festliche Gestaltung eines Gottesdienstes im Altenberger Dom am morgigen Sonntag hinstrebt. Aber mit dem Ehepaar Heindrichs kamen weitere Dimensionen in unsere Wieswoche. Größten Zulauf in einem Nachmittags-Arbeitskreises hatten, zu meinem Erstaunen, die Deutungen deutscher Märchen mit Frau Dr. Ursula Heindrichs ("Alle Menschen brauchen Märchen"), und dann lernte ich die Vielseitigkeit von Heinz Albert Heindrichs im persönlichen Porträt des Malers, Dichters und Komponisten kennen. Heinz-Albert Heindrichs hat einmal markant in Diskussionen um den für manchen Außenstehenden ungewöhnlichen Namen "Werkgemeinschaft" eingegriffen: "Werk - so steht es im Brockhaus - bedeutet: 1. Arbeit, Tätigkeit - 2. Erzeugnis, Schöpfung, künstlerischer Akt - 3 . sittliche Handlung ('gutes Werk') - 4. Anlage eines Betriebs. Die ersten drei Bedeutungen passen recht gut zum Bild der Werkgemeinschaft." Heindrichs stellt dann einen Bezug zu Wortfindungen im frühen 20. Jahrhundert her, "hinter denen ähnliche Intentionen stehen, wie sie die Gründer der Werkgemeinschaft vor Augen hatten. 1. Werkbund: er wurde 1907 gegründet um einen bestimmten Einfluß auf die Qualität von Architektur, Möbeln und Gerät zu nehmen [...] 1933 wurde er aufgelöst und 1947 neu gegründet [...] 2. Werkleute auf Haus Nyland: rheinisch-westfälische Dichtergruppe, die sich um 1905 bildete, aber [...] in der unmittelbaren Nachkriegszeit ihren größten Einfluß hatte. Es ist zu vermuten, dass unser Gründungsfreund Prälat Wolker mit den Werkleuten auf Nyland in unmittelbarem Kontakt stand, vor allem schon in der Widerstandszeit vor 1945. - So steht der Name Werkgemeinschaft in einem qualitativ geschichtlichen Kontext, der ihm Charakter und Patina verleiht [...]"

Sie verzeihen, wenn ich heute nicht alle Tagungsleiter, Referenten, Vorstandsmitglieder, Teilnehmer und Freunde namentlich ansprechen kann. Zu Karl Linke wäre so vieles zu sagen, oder zu Thomas Berg und seiner großen Familie mit seinem großartigen Engagement, zu Arno Leicht und seiner hervorragenden Arbeit. Aber es gehört sich wohl in der Feierstunde hier, zur Generation der Gründer der Werkgemeinschaft, zu den Themen der Gründungsphase und zu den darauf folgenden Entwicklungen noch einige Anmerkungen zu machen:

Die Anregung für den Zusammenschluss junger Leute, die sich für die kulturelle Seite der Jugendarbeit engagieren wollten und Wege "zur einer neuen Geselligkeit" suchten, gab Ludwig Wolker, der 1946 hier in Altenberg die Verantwortung trug. Ludwig Wolker ist also der Pate der WG. Günter Bernert nahm damals das Heft in die Hand, scharte kompetente Fachleute um sich und leitete die WG über zweieinhalb Jahrzehnte als Motivator und spiritus rector. Seine Frau Cläre unterstützte ihn in der Geschäftsstelle, zunächst hier im Buchladen, dann im neu gebauten Jugendhaus in Düsseldorf. Ihre Kinder, Töchter, Christine Custodis, Gabriele Hüsig und Monika Jahnke können darüber viel authentischer als ich berichten.

Im Januar 1947 waren als Referenten dabei: Walther Lipphardt, Rudolf Korn, Hans Kulla, Marianne Dirks und Adolf Lohmann. Bei der zweiten Tagung ist Josef Kemper, dessen Tochter Magdalena Kemper-Güldenberg unter uns weilt, Chorleiter und chorischer Stimmbildner. Günter Bernert selbst ist der Garant für den Bereich "Geselliger Tanz". Cläre Fasbender berichtete mir dazu einmal: "Der brachte uns bei, wie man katholisch tanzt - nicht zu eng, aber immer lustig."

Im Mittelpunkt steht jedoch das Singen, und dabei das Lied. Die Themen im Plenum und in den Arbeitskreisen sind: lateinischer Choralgesang, deutsche Gregorianik, Kanonsingen, mehrstimmiger Gesang, Lied, Jungen- und Mädchenlied, Kirchenlied, Liedkritik. Es entstehen Werkhefte für die Arbeit in den Heimatgemeinden, Lose-Blatt-Sammlungen und Liederbücher. Zielgruppen sind die Singkreise, aber auch die Gruppenleiter im Heliand und ND. Die "Werkgemeinschaft für Lied und Musik", wie sie zuerst und bis 1980 heißt, publiziert zahlreiche Liedsammlungen, das "Altenberger Singewerk" entsteht, später kommen Chorliteratursammlungen hinzu, Fritz Schieris Christophorus-Chorwerk und Gotthard Speers und Karl Webers Christophorus-Chorblätter.

Einige Diskussionen aus diesen ersten Jahren klingen heute fremd in unseren Ohren, aber vielleicht gibt es aktuell, wenn wir nur genau draufschauten, viel mehr Material für einen Tagungs-Arbeitskreis "Kritik am Kitschlied" als je zuvor, aber wir verzichten wohl lieber auf solch heiße Themen...

Walther Lipphardt suchte von Beginn an, den Blick über konfessionelle Grenzen zu weiten, er erreichte z. B., dass fast alle Teilnehmer der ersten Altenberg-Woche im Frühsommer 1947 zu einer gemeinsamen Tagung der Begegnung mit einem Kreis der evangelisch-liturgischen Bewegung in Ilbenstadt zusammenkamen. Er und Johannes Aengenvoort bemühten sich immer wieder um einen intensiven ökumenischen Dialog, und so, wie wir heute die Werkgemeinschaft erleben, hat dies nachhaltig Früchte getragen.

Die Aufgaben unserer Organisation dehnten sich nach einigen Jahren auf immer mehr Werkwochen aus: in speziellen Zielgruppen werden unterschiedliche "Multiplikatoren" und Motivatoren angesprochen. Die Tagungen sind Fortbildungen im besten Sinne des Wortes. Die Tagungsorte der Werkgemeinschaft sind meist landschaftlich außerordentlich reizvoll gelegen.

Und die Verantwortlichen, allen voran Günter Bernert wirken auch auf anderen Ebenen für die wieder neu aufstrebende Musikkultur im Deutschland: Bernert ist 1953 Mitgründer des Deutschen Musikrats, 1962 des BMJ, aus dem später der BKJ (Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung) hervorgeht, Ende der 50er-Jahre wird von ihm die Musische Bildungsstätte Remscheid (heute Akademie für musische Bildung und Medienerziehung) mit auf den Weg gebracht. Lange Jahre ist er Vorsitzender des Trägervereins, so dass sein außerordentliches Engagement gewürdigt wird: "Er hat die Akademie mitgeplant, miterrichtet, ständig weiterentwickelt... Sein leitendes, unterscheidendes, entscheidendes Mittun war lebensnotwendig für die Einrichtung und ihr Wachsen."

In den 60er-Jahren beginnt die große Phase, in der das Zweite Vatikanische Konzil viele Ideen der Liturgischen Bewegung aufgreift und in der auch viele musikalische Neuerungen probiert und umgesetzt werden. Viele Fachleute, die auch in der Werkgemeinschaft wirken, bringen sich in diesen Prozess ein. Deutsches Kirchenlied, deutsche Gregorianik, deutsches Psalmodieren und anderes wird in den Werkwochen vorgestellt und geübt. Einige aus der WG wirken entscheidend am Einheitsgesangbuch Gotteslob mit. Dies ist eine spannende und sicher auch reibungsvolle Phase der Erneuerung in der katholischen Kirche, die Werkgemeinschaft nimmt daran rege teil, auch in der Auseinandersetzung mit Verfechtern der Tradition.

Einige Jahre später rücken Fachtagungen zu neuen Themen, zum Neuen Geistlichen Lied, zu neuen musikpädagogischen Ideen, zu ästhetischen Fragen und neuen Musik-Modellen in den Blick.

Beständigkeit zeigt die Werkgemeinschaft vor allem im Angebot der beliebten Sommerwerkwochen, ansonsten ist sie stets offen, neue Formen der Musikvermittlung zu erproben, die Familienmusiziertage (Ursula Bongard) und die Percussionsübungen für Erwachsene oder Kinder (Leonard Ginçberg) will ich beispielhaft nennen. Technische Neuerungen sind Tagungsthema, sie ziehen aber auch - peu a peu - in die Geschäftsstelle ein. Im neuen Jahrtausend bringt die Frage nach der Jugendlichkeit der Teilnehmer Umbrüche mit sich. Die mehr als fünf Jahrzehnte gewährte Förderung aus dem Bundesjugendplan wird leider nicht mehr gewährt. Unseren Kampf hierum - Magdalena Kemper-Güldenberg wird sich gut daran erinnern - haben wir vorläufig verloren. Aber es entstehen neue Strukturen in der Werkgemeinschaft.

Gestatten Sie, dass ich aus einer Zeitungsnotiz von diesem Mittwoch zitiere. In der Rheinischen Post heißt es: "60 Jahre nach der Gründung des legendären Schriftsteller- und Intellektuellenkreises 'Gruppe 47' kommen ehemalige Mitglieder am 15. Juni im Berliner Ensemble wieder zusammen. Beim 'literarischen Gipfeltreffen' auf dem 'Blauen Sofa' diskutieren Günther Grass, Martin Walser und Joachim Fest. Dabei geht es um Fragen wie: Was ist von der 'Gruppe 47' geblieben? Welche Rolle spielen Literaten heute noch in Politik und Gesellschaft?" (Ende des Zitats) Wie Sie vielleicht wissen, ging die Gruppe 47 etwa 20 Jahre später auseinander. Ich bin froh, dass wir heute hier zusammenfinden können. Aber ähnlich wie in Berlin im Juni könnten wir heute in Altenberg fragen: Was ist aus der Werkgemeinschaft geworden? Welche Rolle spielt sie heute noch?

Im Mai 2005 konstatiert Ulrich Rademacher - Direktor der größten Musikschule Deutschlands in Münster - vor der Enquete-Kommission "Kultur in Deutschland" des deutschen Bundestages: "Wir haben das Singen gründlich verlernt." Rademacher zeichnet drastisch nach, wie sich "aufgeklärte, 'adornisierte' Nachkriegskinder" in Deutschland mehr und mehr vom Singen entfremdeten und wie "die Musikwelt (nicht nur was das Singen angeht) begann, sich [...] auseinander zu entwickeln zwischen extremer Intellektualisierung [...] und extremer Banalisierung." Rademacher sieht aber heute auch große Chancen, wenn er behauptet: "An der Westfälischen Schule für Musik Münster könnte bei entsprechender finanzieller Ausstattung und angeleitet durch einen gut ausgebildeten charismatischen Chorleiter jeden Monat ein neuer Kinderchor gegründet werden."

Für die Werkgemeinschaft gilt: Wir haben und hatten das Singen nicht verlernt! Und die Chancen, die in der Musikkultur nach neuem Nachdenken heute eröffnet werden, sollten auch für die Werkgemeinschaft neue Perspektiven aufzeigen.

Das Konzept der Werkgemeinschaft Musik ist beachtlich, es basiert auf dem christlichen Menschenbild und auf einer ganzheitlichen Idee:

  • Neben dem Singen steht das Spiel (auch das Instrumentalspiel), das Tanzen, der Gottesdienst.
  • Neben der musikalischen Praxis stehen Momente der Reflexion.
  • Neben der begnadet begabten Geigerin steht der profunde Chorbass, und beide lernen voneinander.
  • Vielseitigkeit im Angebot soll helfen, Einseitigkeit im Fachlichen auszugleichen. Dies schließt Exzellenz im Fachlichen unbedingt ein. Gerade die Besten helfen uns mit ihrem Charisma.

Denen, die in den letzten Jahren mit viel Engagement und mit Hilfe externer Veranstalter daran festgehalten haben, Werkgemeinschaft zu sein, wünsche ich auf ihrem Weg weiterhin guten Erfolg und reichhaltige Ideen!

Lassen Sie mich zum Schluss zwei Gedanken Romano Guardinis einbringen, die ich in vielen Stunden in der Werkgemeinschaft verwirklicht sehe:

  • "Die eigentliche Gemeinschaft hat ihren Entscheidungspunkt darin, dass ich den Anderen anerkenne, nicht nur in seinem verständlichen Eigensein, sondern auch in seiner Fremdheit."
  • "Und das ist das Leben der höchsten Wesen, der Engel, daß sie, ohne Zweck, wie der Geist sie treibt, im geheimnisvollen Sinn vor Gott sich bewegen, ein Spiel vor ihm sind und ein lebendiges Lied."

In diesem Sinne wünsche ich eine fröhliche Familienfeier zum 60. Geburtstag und gutes Gelingen im morgigen Gottesdienst!



Diesen Text - ergänzt um einige Fußnoten - finden Sie hier auch als PDF-Datei