Es ist ein Ros entsprungen



Bild "WurzelJesse.jpg"
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Ich möchte mich in diesem Jahr dem Weihnachtsgeheimnis über drei Bilder nähern. Sie stammen aus dem sog Wasseralfinger Altar von Sieger Köder. Es ist ein Altar zum Auf- und Zuklappen, sodass man zu unterschiedlichen Festzeiten verschiedene Bilder sieht. Zur Weihnachtszeit sieht man vier Bilder nebeneinander, von denen ich drei vorstellen möchte, je eins pro Abend.
Das erste, von links nach rechts gelesen stellt die „Wurzel Jesse“ dar, also sozusagen den Stammbaum des neugeborenen Kindes. Ein alter, morscher Baum mit vielen Rissen, von dem nur noch ein Stumpf übrig geblieben ist und aus dem überraschenderweise eine Blume herauswächst. Was es mit diesem Baumstumpf auf sich hat, verrät uns die Person, die am Fuß des Baumes sitzt, eine Schriftrolle auf dem Schoß und die Hand nach oben deutend.
Wer Hebräisch gelernt hat und den Text auf der Rolle lesen kann, wird herausfinden, dass es sich um einen Abschnitt aus dem Propheten Jesaia handelt, den Abschnitt, den wir gerade in der Lesung gehört haben:“ Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.“

Jesaia schreibt diesen Satz, als das Volk Israel sich in der Fremde befindet: „An den Flüssen Babylons saßen wir und weinten“ lautete eins ihrer Gesänge. Getrennt von ihrer Heimat und getrennt von ihrem religiösen Zentrum, dem Tempel in Jerusalem, kamen sie sich vor wie ein morscher Baumstumpf, der keine Zukunft mehr hat. Jesaia nennt ihn den „Baumstumpf Isais“.
Isai  (später auch Jesse genannt) war der Vater des Königs Davids, und wenn das Volk Israel den Namen David hörte, dann kamen nostalgische Erinnerungen an ein Reich, in dem es unter der Führung Davids selbstbestimmt und ihren Glauben leben konnten.
Jesaia will seinem in Depression gefallenen Volk neue Hoffnung machen und wenn er dabei den Namen Isai und mitgedacht David nennt, dann geht es nicht nur um den Hinweis auf eine Abstammung, sondern der Hinweis weckt Erinnerungen: SO wie unter David solls wieder werden. Und in Folge beschreibt er eine Welt, die den Zustand der davidischen Zeit bei weitem übertrifft: „Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter…Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen“
Das sind paradiesische Zustände, die Jesaia seinem Volk verheißt, wenn der Reis aus dem Baumstumpf herauswächst.
Aus dem Reis wird in unserm Weihnachtslied eine Rose:
Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart, wie uns die Alten sungen, von Jesse kam die Art.. Das Lied greift die Vision des Jesaia auf und deutet sie auf den neugeborenen Jesus. Mit ihm erfüllt sich all das, was Jesaia einst verheissen hat.
Der Maler Sieger Köder hat noch mal eine andere Deutung: bei ihm wächst kein Reis, auch keine Rose, sondern eine Passionsblume aus dem Baumstumpf. Mit diesem Symbol will er andeuten, dass die Verheissungen Jesaias sich anders erfüllen, als wir vielleicht erwartet haben: Jesus kommt nicht als der grosse Held zur Welt, der jetzt alles in ein Paradies verwandelt, sondern als kleines, verletzliches Kind, das in seinem Leben das Ziel des Lebens durch das Leiden hindurch erreicht.
Dieser Gedanke gehört zum Weihnachtsgeheimnis: Mit Jesus ist das Leid nicht aus der Welt, aber er hat uns mit seinem Leben und seinem Tod einen Weg durch das Leid hindurch gezeigt, der erst dann in eine Welt führt, wie Jesaia sie beschreibt

Bilder haben im Vergleich zur Sprache den Vorteil, dass sie Geschehnisse gleichzeitig darstellen können und Sieger Köder nutzt diesen Vorteil häufig. Bei diesem Bild gibt es noch zwei andere Szenen aus einer jeweils anderen Zeit, die aber zu dem Zentralbild in Beziehung stehen. Den Bibeltext des rechten Bildteils haben wir gerade gehört: Es geht um die Verkündigung des Engels an Maria: „Sei gegrüßt, Begnadete, der Herr ist mit Dir“
Auch mit dieser Szene wird die Prophetie des Jesaia auf Jesus hin gedeutet: Das, was damals vorhergesagt wurde, erfüllt sich jetzt und Maria spielt darin eine wichtige Rolle.
Dass sie, die den Jesaia wohl gekannt hat, darüber heftig erschrocken war, lässt sich gut verstehen. Sie hebt ihre linke Hand fast abwehrend: „Wie soll das geschehen?“ Die Abwehr gilt aber wohl auch dem hellen Licht, das auf sie fällt. Es kommt, nicht wie im Evangelium vom Engel Gabriel, sondern von Gott selber, der von oben seine Hand ausstreckt; eine Hand in der der alte Name Gottes eingraviert ist: „“Ich bin der Ich bin mit Euch“.
Maria soll also mitwirken an der Erfüllung der alten Prophetie, indem sie ja sagt zu ihrer ungeplanten Mutterschaft. Sie kann es nicht aus eigenen Kräften, sondern weil der Herr mit ihr ist.
Ihr geht es so ähnlich wie Gideon, der ein paar hundert Jahre vor ihr gelebt hat, und den wir links vom Baumstumpf sehen. Es würde jetzt zu weit führen, seine ganze Geschichte zu erzählen. Man kann sie im Buch der Richter nachlesen. Aber es gibt auffällige Parallelen zur Verkündigungsgeschichte bei Maria. Auch er erhält einen Auftrag, gegen den er sich zunächst wehrt, aber auch er bekommt die Zusage: Der Herr ist mit Dir und wird damit ebenfalls zum Mitwirkenden Gottes.

Das Bild deutet Weihnachten in zwei Aspekten:
Die Geburt Jesu ist die Erfüllung einer alten Verheißung für eine gute und gerechte Welt. Nur erfüllt sich diese Verheißung nicht durch eine Heldentat, sondern durch das Leid hindurch und die Hingabe seines Lebens.
Wir Menschen sind berufen, an dieser Erfüllung mitzuwirken, nicht zuerst aus eigener Kraft, sondern durch die Zusage Gottes, dass er mit uns ist.
Dieser Verheißung und dieser Zusage zu trauen ist das Zentrum unseres christlichen Glaubens.