Klagegebet und Danklitanei



Psalm 136 - Ekstatischer Hymnus auf Gottes Güte


1. Herkunft

Der 136. Psalm ist eine Danklitanei: Jeder 2. Halbvers besteht aus der gleichlautend wiederkehrenden Rühmung: „Denn seine Güte währet ewiglich“. Derlei Litaneien hatten wohl ihre ursprüngliche Verwendung im Gottesdienst des 2. Jerusalemer Tempels. Einige Stellen aus den Chronikbüchern weisen auf Organisation und Ordnung der Tempelmusik hin und auf das Gotteslob, das sich in lebendigem Wechsel zwischen Vorsängern und antwortender Gemeinde vollzog: 1 Chr 25,1-8; 2 Chr 5,11-14; 2 Chr 29,25-30.
Psalm 136 ist der biblische Basistext aller späterer Litaneien in der christlichen Frömmigkeit.
In der jüdischen Liturgie hat er bis heute zusammen mit dem 135. Psalm im Seder-Mahl des Pesachfestes seinen angestammten Platz.

2. Aufbau und Inhalt

Der kunstvolle Aufbau des Psalms besteht aus den beiden Rahmenteilen (V.1-3 und 26) und aus vier Hauptabschnitten (4-9.10-15.16-22.23-25).
Die eröffnenden Rahmenteile (1-3) stellen eine dreifache Aufforderung zum Dank an Jahwe, den Gott Israels dar; denn er ist der oberste Gott in Religion und Politik: „Götter“ und „Herren“ beherrscht er.
Die vier Hauptabschnitte sagen rühmend, warum Israel diesem Gott danken muss: Er ist sein Schöpfer (4-9), sein Befreier (10-15), sein Anführer in der Wüste und bei der Landgabe im Ostjordanland (16-22); er ist aber auch der Gott, der in der Gegenwart des Psalm-Dichters wirksam ist: Erneut erweist er sich aktuell als Befreier und Ernährer seines Volkes (23-25).
So umfasst das „Credo“ des Psalmisten nicht nur die vergangenen Taten des großen Gottes, sondern auch sein tatkräftiges Wirken in der Gegenwart.
Einige Besonderheiten in den vier Hauptabschnitten sind hervorhebenswert:
- Die Schöpfungsschilderung (4-9) betont, dass er dabei „alleine“ (4) und „mit Weisheit“ (5) tätig war; Luther übersetzt letzteres mit „ordentlich“. Die Aufzählung der Schöpfungswerke (5-9) lässt die Vorlage des 1. Schöpfungsberichts (Gen 1,1-31) deutlich erkennen.
- Die Rühmung des Exodus (10-15) ist von der Vorstellung des kämpferisch schlagenden Gottes geprägt. Wie der babylonische Hochgott Marduk die Tiamat, die Göttin des Urozeans, spaltet und damit Himmel und Erde erschafft, so teilt Jahwe das Schilfmeer „in zwei Teil“ (13). Alles geschieht, um Israel befreit hindurchgehen zu lassen.
- Der Wüstenzug des Volkes wird nur in einem Satz erwähnt (16), ohne auf das Sinaiereignis einzugehen; doch breit und ausführlich malt der Dichter die sog. ostjordanische Landnahme aus (17-22) samt den Namen der dortigen Könige Sihon und Og; sie kommen in die Danklitanei wie bei uns der „Pontius ins Credo“. Wohlgemerkt, der Einzug ins West-Jordanland bleibt unerwähnt, denn er wird außerhalb des Pentateuch erst im Buch Josua berichtet. Im Pentateuch aber bleibt die Landnahme unvollendet, denn der sündigen Wüstengeneration, einschließlich Mose, bleibt das Gelobte Land verwehrt.
- Die Gegenwart des Dichters (23-25) hat wohl noch Unterdrückung und Fremdherrschaft in frischer Erinnerung, wenn auch offen bleibt, zu welcher Zeit sie sich abspielte. Wichtiger erscheint, dass der Gott Israels sich in Unterdrückung und Freiheit als Lebensspender und Erhalter seiner Geschöpfe erweist.

3. Die Vertonung

Heinrich Schütz hat den 136. Psalm in seinen Zyklus von 26 Psalmenvertonungen, den „Psalmen Davids“ von 1619, sogar zweimal (SWV 32) aufgenommen und ihn in der Übersetzung Martin Luthers ganz vertont. Aus der Anlage und dem Aufbau des Psalmentextes hat Schütz die Architektur seiner Komposition (SWV 45) gewonnen: Den nach jedem Halbvers wiederkehrenden Kehrvers „denn seine Güte währet ewiglich“ überträgt er meist dem 5-stimmigen Capellchor, der ihn wie ein Ritornell ständig wiederholt. Das eigentliche Textgeschehen, das „Credo“ der Geschichte Israels, wird von den beiden Favoritchören bestritten, freilich mit der Ausnahme, dass der Capellchor beim dramatischen Geschehen der Schilfmeerteilung und der Rettung Israels in die Schilderung miteingreift und sie dadurch noch lebendiger macht. Gerade an dieser Stelle erweist sich Schütz als kongenialer Ausleger der Schrift, als „musicus poeticus“ (Eggeberecht), der das Bibelwort zum Klingen bringt: Man hört förmlich, wie sich das Schilfmeer in „zwei Teil“ teilt und die Israeliten einer hinter dem anderen, Schritt für Schritt hindurchzieht.
Von überwältigender Wirkung ist die Schluss-„Apotheose“, in der Schütz das Bekenntnis des Kehrverses, „denn seine Güte währet ewiglich“, in einem fast ekstatisch stampfenden Dreier-Tanzrhythmus triumphieren lässt.

4. Aktualität

Was spricht uns heute aus dem 136. Psalm an?
- Die zentrale Stellung der Schöpfungsschilderung gleich im 1. Hauptabschnitt ruft uns erneut die dringliche Aufgabe der Erhaltung und Pflege der Schöpfung und ihrer Lebensräume in Erinnerung.
- Das Nebeneinander der Bilder des schlagend-gewalttätig wirkenden Gottes, aber auch des solidarisch unsere Niedrigkeit begleitenden Gottes eröffnen uns auch hier die Vielfalt biblischer Gottesbilder und laden uns zur Ausprägung unseres je eigenen Gottesbildes ein.
- Ps 136 zeigt, dass sich Glaube nicht nur auf Vergangenes und längst Gewesenes bezieht, sondern vor allem auf die Gegenwart und auf die Situationen, in denen wir aktuell stehen. Zu ihrer Bewältigung will Glaube beitragen. Das ist die Stärke unseres Glaubens, der Berge versetzen kann. Ihn bekunden wir als Chorsänger mit dem ekstatischen Ruf: „Denn seine Güte währet ewiglich“.

Theodor Seidl