Biblische Sichtweisen der Wieswoche II 2024
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„Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist“ (Ps 90,4) – Verse wie dieser, wie sie einem aus der Einheitsübersetzung geläufig sind, hätten von Anfang an darauf aufmerksam machen können, dass der Ausdruck „Tag“ im Hebräischen sehr viel weiter und offener gefasst ist, als beim gewöhnlichen Sprachgebrauch im Deutschen. Das gilt es vor allem beim sog. Schöpfungsbericht Gen 1 und der dort dargestellten Schöpfungs„woche“ zu berücksichtigen. „Abend“, „Morgen“, „Tag“ – das alles sind Metaphern, über deren tiefere Bedeutung man lange nachgrübeln könnte. Ist mit der Schöpfungswoche auch nicht an eine Arbeitswoche in unserem Sinn zu denken, so ist doch nicht auszuschließen, dass sich für die biblische Mentalität die großen kosmischen Prozesse über Milliarden von Jahren hinweg in den kleinen Zeitzyklen des Alltags widerspiegeln.
Das bot den Anlass, die Entstehung eines musikalischen Werkes während der Wieswoche II in diesem Jahr (2024) einmal zu der großen Schöpfungswoche der biblischen Erzählung in Beziehung zu setzen und in den regelmäßigen Morgenandachten zum Ausgangspunkt zu nehmen. Dabei wurde, ohne wesentliche Veränderung des Textbestands, eine eigenständige Übersetzung gewagt. Es folgt hier der Text mit den Erklärungen zu manchen ungewohnten Ausdrücken. Um den metaphorischen Charakter der Zeitangaben deutlich zu machen, wurde „Tag“ als „Weltentag“ wiedergegeben und vor den Angaben der Tageszeit ein kleines unmerkliches „wie“ eingefügt.
Tag 1: Begrüßung - Kennenlernen
Mich fasziniert jedesmal, wie im ersten Schöpfungsbericht das Licht als für sich stehende Größe behandelt wird, als eigenes Schöpfungswerk, und das unabhängig von irgendwelchen Gestirnen als Lichtspendern, von denen erst später die Rede ist. Wäre es zu gewagt, eine Ahnung der Hintergrundstrahlung anzunehmen? Wie immer, diese frühe beachtliche Abstraktionsleistung bildet die Grundlage für eine zunehmende Spiritualisierung des Lichtes, bis hin zum Johannesprolog, der den „Logos“ als Licht der Welt einführt, um damit auf Jesus, als den Fleisch gewordenen Logos, hinzuweisen.
Im Folgenden habe ich daher das Licht nicht nur „sein“, sondern eben auch „strahlen“ lassen, um ein wenig an den physikalischen Sprachgebrauch für das „älteste“ Licht anzuknüpfen.

(Gen 1,1) Zu Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. (2) Da war die Erde Dehnen und Sehnen und finster war‘s über der Flut, doch göttlicher Geist schwebte über dem Wasser. (3) Da sprach Gott: es strahle Licht, da strahlte Licht. (4) Da sah Gott das Licht und wirklich, es war gut, und Gott schied zwischen dem Licht hier und der Finsternis da. (5) Da nannte Gott das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht. Da wurde es wie Abend, da wurde es wie Morgen: ein Weltentag.
Tag 2: Erste Probeerfahrungen
Der zweite Tag, an dem viel von Scheidung oder Trennung die Rede ist, wird als einziger Tag am Ende nicht ausdrücklich gut geheißen. Trennung und Unterscheidung ist wichtig und notwendig wie in der Schöpfung so in jedem künstlerischen Werk. Nach den ersten Begrüßungen beginnt die Kleinarbeit in den Registerproben. Es ist noch nicht das Eigentliche, worauf es ankommt. Aber es ist eben doch eine wichtige Voraussetzung, wenn am Ende auch der Gesamtklang Freude und Zufriedenheit und nicht heilloses Durcheinander erzeugen soll.

(6) Da sprach Gott, es werde ein Gewölbe inmitten des Wassers, damit es eine Scheidewand sei zwischen dem Wasser hier und dem Wasser da. (7) Da machte Gott das Gewölbe und schied zwischen dem Wasser unterhalb des Gewölbes und dem Wasser oberhalb des Gewölbes. Da geschah es so. (8) Da nannte Gott das Gewölbe Himmel, da wurde es wie Abend, da wurde es wie Morgen: ein zweiter Weltentag.
Tag 3: Entstehung von Vielfalt
Der dritte Tag enthält als erster einen Hinweis auf die Vielfalt in der Schöpfung: Bäume und Pflanzen werden in unterschiedlichen Arten hervorgebracht. Ihr gemeinsames Merkmal ist jedoch, das sie sich durch Samen vermehren, und so im wahrsten Sinne des Wortes über sich hinauswachsen können. Auch bei den Proben wird spürbar, wie sehr man noch wachsen muss, damit daraus etwas werden und dann bestenfalls auch weiterwirken kann. Doch vielleicht werden auch schon erste Blüten sichtbar.

(9) Da sprach Gott: es sammle sich das Wasser unterhalb des Himmels an einem Ort und sichtbar werde das Trockene. Da geschah es so. (10) Da nannte Gott das Trockene Land und die Sammlung von Wasser nannte er Meere. Da sah Gott: wirklich, es war gut. (11) Da sprach Gott: es grüne die Erde mit grünem Kraut, das Same hervorbringt nach seiner Art, Bäume, die Früchte hervorbringen nach ihrer Art, in denen ihr Samen ist auf der Erde, da geschah es so. (12) Da brachte die Erde grünes Kraut hervor, das Samen hervorbrachte nach seiner Art und Bäume, die Früchte trugen, in denen ihr Samen nach ihrer Art war, da sah Gott: wirklich, es war gut. (13) Da wurde es wie Abend, da wurde es wie Morgen: Ein dritter Weltentag.
Tag 4: Erster Überblick
Die Schöpfungstage sind nicht streng chronologisch, sondern mehr nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet. Bisher wurden Lebensräume geschaffen. Ab dem vierten Tag werden diese Lebensräume mit konkreten Schöpfungen erfüllt: zuerst kommen Gestirne, dann die Lebewesen im Wasser und in der Luft, zuletzt die Tiere auf dem Land und die Menschen. Nach der Mühe der ersten Registerproben werden größere Zusammenhänge allmählich spürbar, es entsteht ein Gefühl für den Gesamtaufbau des vorgenommenen Werkes, sowie für die kleinen Kostbarkeiten, die sich an bestimmten Stellen versteckt halten. Übrigens wird nur in Bezug auf die großen Lichter das klassische Wort für Herrschaft gebraucht. Dass es nicht gut kommt, wenn der Mensch seine Herrschaft so weit ausdehnt, dass er sogar das Klima verändert, bekommen wir täglich mehr zu spüren. Auch der nachschaffende Künstler versucht die Originalität des einzustudierendes Werkes so weit wie möglich zu erhalten und von willkürlichen Eingriffen zu befreien.

(14) Da sprach Gott: es werden Lichtspender am Himmelsgewölbe, um zu trennen zwischen dem Tag und der Nacht und zu Zeichen zu werden für Zeiten, Tage und Jahre. (15) Da werden sie zu Lichtspendern am Gewölbe des Himmels, um auf der Erde zu leuchten, da geschah es so. (16) Da machte Gott zwei große Lichtspender, den größeren Lichtspender zur Herrschaft über den Tag, und den kleineren Lichtspender zur Herrschaft über die Nacht und die Sterne. (17) Da setzte sie Gott ans Gewölbe des Himmels, um zu leuchten über der Erde, (18) damit sie herrschen am Tag und in der Nacht, da sah Gott: wirklich, es war gut. (19) Da wurde es wie Abend, da wurde es wie Morgen: ein vierter Weltentag.
Tag 5: Entfaltung von Ausdruck
Und weiter geht es mit der Belebung von Lebensräumen. Nach der Weite des Weltalls senkt sich der Blick auf die Atmosphäre der Erde. Wasser und Luft sind jetzt die entscheidenden Elemente, die mit den ersten Lebewesen bevölkert werden. Erstaunt nehmen wir wahr, dass sie viele von den Auszeichnungen des Menschen vorwegnehmen: sie werden nicht nur „erschaffen“, sondern sage und schreibe auch ausdrücklich gesegnet zum unmittelbar anschließenden Vermehrungsauftrag. Doch was heißt hier eigentlich Vermehrung? Im Hebräischen gibt es keine grammatikalische Form für den Komparativ, wie im Deutschen beim Wörtchen „mehr“. Wörtlich beinhaltet das zugrunde liegende Verb nur „viel sein“. Warum nicht von „vielfältig sein“ sprechen? Artenvielfalt ist eine wichtige, immer kostbarer werdende Voraussetzung für Leben auf der Erde. Vielfalt muss auch sonst jedes kreative Tun auszeichnen. Mit den fortschreitenden Probetagen wird unser Singen und Spielen immer differenzierter, ausdrucksvoller und damit eben auch „vielfältiger“.

(20) Da sprach Gott: es wimmle das Wasser von Gewimmel aus Lebewesen und Vögel sollen fliegen am Gewölbe des Himmels. (21) Da schuf Gott die großen Seetiere und alle kriechenden Lebewesen, von denen es am Wasser wimmelt nach ihrer Art und alle gefiederten Vögel nach ihrer Art. Da sah Gott und wirklich, es war gut. (22) Da segnete sie Gott, indem er sprach: seid fruchtbar und vielfältig und erfüllt das Wasser in den Meeren und die Vögel entfalten sich auf dem Land. (23) Da wurde es wie Abend, da wurde es wie Morgen, ein fünfter Weltentag.
Tag 6: Ausdruck für Menschen von heute
Die erschaffene Welt wird uns immer vertrauter. Das Festland als zu bevölkernder Lebensraum kommt in den Blick und damit auch der von uns Menschen bewohnte Raum. Sollen wir auch sagen: beherrschte Raum? Für das Herrschen des Menschen wird im Hebräischen ein untergeordnetes Verb gebraucht, das die Grundbedeutung „treten“ hat und als solches auch von dem Treten der Kelter gebraucht vorkommt. Zeitgenössische Bildwerke aus dem mesopotamischen Raum in der Zeit um 700 v. Chr. zeigen Menschen, die den Fuß auf ein Kalb setzen und gleichzeitig, mit einer geschwungenen Axt bewehrt, einen anspringenden Löwen abwehren. Das macht deutlich, was die damalige Redewendung „ein Fuß auf etwas setzen“ bedeutet haben muss: einerseits Besitzergreifung, das wohl, aber zugleich eben auch Gewährleistung von Schutz gegenüber äußeren Gefahren. Und was könnte treffender sein als Bild für heutige Gefahren von Ausbeutung und Zerstörung als ein solches Raubtier?
Die einstudierte Musik wird immer ausdrucksvoller und damit, wenn man so will, auch „menschlicher“. Wie alt eine Musik auch sein mag, sie ist immer noch eine passende Form, in der auch heutige Gedanken und Stimmungslagen eingebracht werden können, damit wir mit ihnen unsere Zeitgenossen erreichen.

(24) Da sprach Gott: Die Erde bringe Lebewesen hervor nach ihrer Art, Vieh und Kriechtiere, und Tiere auf dem Land nach ihrer Art, da geschah es so. (25) Da machte Gott die Tiere des Landes nach ihrer Art und das Vieh nach seiner Art und alle Kriechtiere des Erdbodens nach ihrer Art, da sah Gott, wirklich, es war gut.
(26) Da sprach Gott: Machen wir doch Menschen nach unserem Bild zu unserer Ähnlichkeit. Da sollen sie in Hut nehmen die Fische des Meeres und die Vögel des Himmels und das Vieh und die ganze Erde und alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen. (27) Da schuf Gott die Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er sie, männlich und weiblich schuf er sie. (28) Da segnete sie Gott und da sprach zu ihnen Gott: seid schöpferisch und vielfältig und erfüllt die Erde und beschirmt sie und behütet die Fische des Meeres und die Vögel des Himmels und alle Tiere, die auf der Erde kriechen. (29) Da sprach Gott, siehe, ich habe euch gegeben alles Kraut, das Samen streut über der Fläche der ganzen Erde und alle Bäume, die Baumfrüchte haben, die Samen streuen: Euch sollen sie zur Nahrung sein. (30) Und für alle Tiere der Erde und für alle Vögel am Himmel und für alles, was kriecht auf der Erde, in dem ein lebendiges Wesen ist, soll alles grüne Kraut zur Nahrung sein. Da geschah es so. (31) Da sah Gott alles, was er gemacht hatte, und siehe: es war sehr gut, da wurde es wie Abend, da wurde es wie Morgen, ein sechster Weltentag.
Tag 7: Aufführung – bunter Abend – Abschied
Eine Woche für ein einzustudierendes Werk ist nicht viel. Man hat das Gefühl, man könnte noch eine unendliche Zeit so weiter miteinander verbringen und musizieren. Doch es ist auch gut, ein nahes Ziel vor Augen zu haben. Am Ende meldet sich immer ein wenig Nervosität. Kommen wir mit der verbliebenen Zeit bis zum Konzert noch hin? Die erstaunliche Erfahrung zeigt: wie eng es auch manchmal gegen Ende wird, zuletzt kommt man doch zurecht. Dann kehrt schon vor der Aufführung die nötige Ruhe und Gelassenheit ein. Und nach der Aufführung, wenn erst die letzte Anspannung abgefallen ist, wie froh und ausgelassen vermag man dann zusammen zu feiern und sich auszutauschen über den gemeinsam innerhalb einer Woche zurückgelegten Weg! So manche Überraschung, was nebenher sonst noch alles an Kreativem entstanden ist, kommt an den Tag. Doch eine Offenbarung wird noch mit Spannung erwartet: die Verkündung, welches Werk für nächstes Jahr ausgewählt worden ist. Das Leben geht weiter. Der Schöpfungsprozess wiederholt sich, und lässt immer wieder neues Leben und neue Werke erstehen. Mit solcher Aussicht kann man getrost in die Zukunft schauen.

(Gen 2,1) Da wurden vollendet der Himmel und die Erde und ihr ganzes Heer. (2) So vollendete Gott am siebten Tag sein Werk, das er gemacht hatte. Da ruhte er am siebten Tag von all seinem Werk, das er gemacht hatte. (3) Da segnete Gott den siebten Tag und heiligte ihn, denn an ihm ruhte er von all seinem Werk, das sich Gott im Schaffen vorgenommen hatte zu tun. (4) Das ist die Entstehung des Himmels und der Erde bei ihrer Erschaffung.
Text: P. Alban Rüttenauer SAC - geistl. Begleiter Wies 2
Gestaltung: Thomas Schneider
Bildnachweis
1. Weltentag: Thomas Schneider2. Weltentag: Thomas Schneider
3. Weltentag: Thomas Schneider
4. Weltentag: https://pxhere.com/es/photo/1075603 (Ausschnitt)
5. Weltentag: Collage
- http://www.freeworldmaps.net/de/weltkarten/weltkarte-zweifarbig.jpg
- Tierbilder aus: https://pxhere.com
- https://pxhere.com/en/photo/538739
- https://pxhere.com/en/photo/918267
- Thomas Schneider (Wolkenhintergrund, Umriss: Erschaffung des Adam)