Die Wallfahrtspsalmen


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Einführung und Auslegung einiger Beispieltexte


Vorbemerkung

Im Rahmen der Woche "Wieser Musikherbst" der WerkGemeinschaft Musik in der Wies (26.10-1.11.2015) wurden bei den täglichen Laudes einige Wallfahrtspsalmen eingeführt, kurz erklärt und in der Psalmodie des Neuen Gotteslobs gesungen.
Nachfolgend sind die Kurzerklärungen im Wortlaut dokumentiert.

Zur Hinführung

Im Psalter tragen 15 kurze, aufeinander folgende Psalmen, die Psalmen 120-134, die Überschrift schir ha-ma‘lot – „Stufenlied“. Man hat sie daher als Gesänge bezeichnet, die die Jerusalempilger beim Hinaufsteigen zum Heiligtum, auf den Tempelstufen gesungen haben könnten. Weil in manchen der Psalmen auch Momente und Situationen der Jerusalem-Wallfahrt anklingen, tragen sie bisweilen den Namen „Wallfahrtspsalmen“; ja, die ganze Sammlung wurde als Gesangbuch dieser Wallfahrt bezeichnet. Doch ist das Thema der Pilgerschaft nur zu Beginn der Sammlung einschlägig. Jeder einzelne Psalm ist eine Welt für sich und hat seine je besondere Aussage. Daher dürfte die jetzige Zusammenstellung erst nachträglich erfolgt sein. Manche der Psalmen sind auch mehr im bäuerlichen Milieu bzw. in der Alltagswelt von Handwerkern und Gewerbetreibenden verankert. So können sie in ihrer Lebensnähe durchaus auch in unseren Alltag hineinsprechen.
Den vier Psalmen aus der klassischen Reihe habe ich zwei weitere Psalmen an die Seite gestellt, die das Thema „Wallfahrt“ einbeziehen.

Psalm 121

Hier ist die Pilger- und Wegsituation besonders deutlich, vor allem die Gefahren des Weges über die Berge, sei es bei Tag oder bei Nacht.
Dem allen steht gegenüber: Der behütende Gott. Die Leitworte „behüten“ (schamar) und “ Behüter“ (schomer) bestimmen den Psalm in den V. 3.4.5.7.8. Der Hauptwunsch des Psalmisten ist daher: Der behütende Gott, der „Hüter Israels“, möge bei all diesen Gefahren immer mitgehen. Dieser begleitende Gott ist ja allen anderen Göttern haushoch überlegen, weil er im Gegensatz zu ihnen immer wach ist, wie V.4 polemisch zugespitzt formuliert.
Als offene Frage der Auslegung bleibt: Ist Psalm 121 ein Wechselgespräch oder ein Selbstgespräch? Elemente eines Dialogs sind durchaus gegeben, so die bange Frage zu Beginn: „Woher kommt mir Hilfe?“ und die verheißenden Antworten an das fragende Du in den V. 3-8. Doch insgesamt liegt doch wohl ein persönliches Vertrauensgebet vor. Es besagt: Unser Lebensweg ist und bleibt gefahrvoll, aber er ist ein von Gottes Schutz begleiteter Weg – von der Abreise bis zur Heimkehr (V.8).

Psalm 122

Auch hier sind Momentaufnahmen einer Jerusalem-Wallfahrt deutlich greifbar: Eine Pilgergruppe („Wir“) gibt die Initiative zum Aufbruch und löst beim Beter („Ich“) Freude aus. Die Ankunft in der Stadt ist festgehalten (V.2); dann wird die Bedeutung Jerusalems gleich mehrfach unterstrichen:
Die Stadt wird als dicht bebaut gepriesen (V.3) und das Ziel der Stämme-Wallfahrt genannt (V. 4); sie ist der Ort der königlichen Gerichtsbarkeit Davids (V.5) und hat das Haus des Herrn, den Tempel, in ihrer Mitte (V.9).
Dann gehen die Situationsbeschreibungen des Psalms in Bitten und Gebetsaufrufe über: Die Bitte um Friede herrscht vor (V.6-8), angeregt vom Klang des alten Stadtnamens URU-schallim. Da klingt für den Hebräer das Wort schalom an: Friede als Ganzheit, Wohlergehen und Glück wird erbeten. Die Bitten schließen den politischen Frieden für die damals wie heute umkämpfte Stadt mit ein.
Psalm 122 ist der Standardpsalm bei jedem Jerusalembesuch; er ist dort Bittgebet um Frieden im ganzen Heiligen Land. Hier bittet er aktuell um den schalom für jedes Sozialgefüge; denn seine Friedensbitte ergeht um der Menschen willen: „Wegen meiner Brüder und Freunde will ich sagen: In dir sei Friede“ (V.8).

Psalm 126

Der schöne bilderreiche Psalm schaut zurück und schaut nach vorne:
Der Beter, der für seine Gruppe spricht („Wir“), erinnert sich an die große Heilswende Israels, als die Gefangenen aus dem Babylonischen Exil nach Jerusalem zurückkehren durften. Da erfüllte sich ein Traum, da herrschte Jubel und Freude und alle Welt staunte über Israel und seinen Gott (V.1-3)
Die Gegenwart des Beters aber ist bestimmt von Tränen, Not, Missernten. Darum ergehen zu Beginn des zweiten Teils (V.4) Hoffnungsbitten für eine bessere Zukunft: Eine erneute Heilswende gleichen Ausmaßes wie damals wird erbeten. Diese Bitten verbindet der Autor mit Hoffnungsbildern aus der Natur: Ausgiebige Winterregen verwandeln die Trockenwadis in der Negev-Wüste zu wasserführenden Flüssen und lassen gute Ernten erhoffen (V.6), auch wenn man in der lang anhaltenden Trockenzeit unter großen Mühen ausgesät hat (V.5).
Das Unvorhergesehene, Plötzliche ist der Vergleichspunkt dieses Naturbildes: Wie plötzlicher Winterregen im Negev segensreich niedergeht, kann der Gott Israels nach langer Zeit geistiger und seelischer Dürre von heute auf morgen Fruchtbarkeit, Fülle, Neuaufbruch schenken. Das erhofft sich der Autor des Psalms mit allen seinen Betern für eine oft dürre, öde, unergiebige Gegenwart.

Psalm 127

Etwa in der Mitte der Wallfahrtspsalmen befindet sich das Lehrgedicht des 127. Psalms; ein Halbvers daraus ist ein geflügeltes Wort geworden: „Den Seinen gibt es der Herr im Schlaf“ (V.2).
Oft hat man diesen Psalm als Kritik einer einseitigen und übertriebenen Ausrichtung auf Arbeit und Erfolgsstreben gelesen. Das ist er gewiss in seinem ersten Teil, in dem zweimal ein „umsonst/sinnlos ist es“ über eine solche Einseitigkeit des Lebens ausgerufen wird (V.1.2). Das eigentliche Anliegen des Autors ist aber eher das ausgewogene Verhältnis zwischen solchem Erfolgsstreben und dem bescheidenen Bewusstsein, dass aller Erfolg und Gewinn göttliche Gabe ist. Dafür stehen im zweiten Teil als Beispiel die Kinder, die der Psalmist ausdrücklich „Gabe des Herrn“ nennt (V.3); sie sind Gottes vorzüglichstes Geschenk. Der Autor vergleicht sie ein wenig militant mit „Pfeilen“ im Köcher (V.4), findet aber beim Beispiel „Rechtsstreit“ (V.5) auf zivilen Boden zurück: „Söhne“ sind dabei gleichsam unwiderlegbare, lebendige Zeugen für Recht und Gerechtigkeit.
Uns lehrt der Psalm, unser ganzes Leben, alles, was es uns bringt, als Geschenk Gottes zu sehen und es so anzunehmen.

Psalm 42/43

Ich möchte auch den Doppelpsalm 42/43 in die Nähe der Wallfahrtspsalmen rücken, denn er lebt aus der Erinnerung des Psalmisten an die Jerusalem-Wallfahrt und ist geprägt von seiner Sehnsucht nach dem dortigen Heiligtum.
Psalm 42/43 ist ein individueller Klagepsalm, das Bittgebet eines Einzelnen: „Meine Seele“ (V.3) umschreibt das Ich des Beters. Seine Zentralbitte ist, wieder in das Heiligtum zu kommen (42,3 und 43,4-5). Denn jetzt befindet sich der tempelfromme Beter weit weg von Jerusalem, an den tosenden Wassern der Jordanquellen, im hohen Norden des Landes (42,7.8); er sehnt sich nach der Gruppe der Pilger, der er angehörte (42,5), und lebt von der Erinnerung an die Wallfahrt. Die Wasser dort im Norden sind für ihn Chaoswasser, Bilder für seine Bedrängnis und Gefährdung (42,7.8). Ihn bedrücken die Gottferne (42,10) und der Spott seiner Gegner über seine vergebliche Frömmigkeit (42,11).
Im zweiten Teil des Psalms (43,1) wird deutlich, dass der Beter in einer gerichtlichen Auseinandersetzung steht. Er erbittet dafür „Licht und Wahrheit“ als göttliche Begleiterinnen (43,3).
Die Erwähnung von „Altar“, „Harfe“ und Gotteslob (43,4) erweisen den Beter als Tempelfrommen, vielleicht als Tempelsänger.
Die dreimal als Kehrvers wiederholte Selbstanfrage (42,6.12; 43,5) will zur Beruhigung und zur Glaubensstärkung in bedrängter Situation beitragen.
Das Bittgebet des Psalms 42/43 lässt sich in verzweifelten Lagen gewiss nachbeten; dabei ist Gebet immer auch Klage und Anklage: Das mehrfache „Warum“ (42,6.10; 43,2.5) stellt die Sinnfrage unmittelbar an Gott und beklagt seine anhaltende Abwesenheit. Da betet zwar ein Ausgebrannter, dessen Lebenskräfte (näfäsch) verbraucht sind, doch er setzt und hofft weiter auf seinen Gott („harre auf Gott“) und die tragende Stütze der menschlichen Gemeinschaft (42,5).

Psalm 84

Nah verwandt zu Psalm 42/43 ist Psalm 84, ein Sehnsuchtslied nach dem Heiligtum in Jerusalem. Darum kann man ihn durchaus zu den Wallfahrtspsalmen rechnen, auch wenn noch andere Motive und Themen im Psalm enthalten sind.
Er beginnt mit einer Liebeserklärung an den Tempel, die Gotteswohnung (V.2). Der Beter scheint weit von ihr entfernt zu sein; umso größer ist seine Sehnsucht. Sperling und Schwalbe haben ein Zuhause, aber noch nicht der Beter; sein Zuhause wären die Altäre des Heiligtums, wenn man den unvollständigen Satz des V.4 so verstehen darf. Ein Glückwunsch wird ausgebracht auf die, die dauernd im Gotteshaus wohnen dürfen (V.5). Momentaufnahmen aus der Wallfahrt werden sichtbar: Das Rüsten zur Wallfahrt – das Ziehen durch die Täler, die sich durch den Regen zur Fülle wandeln – der Ausblick auf den „Gott auf dem Zion“, das Ziel der Wallfahrt (V.5-8). Dann werden Bitten eingeflochten: Der Beter für sich (V.9) und für den König (V.10). Der Tempelwelt wird als Gegenwelt die Gruppe der Frevler gegenübergestellt (V.11); der Beter preist sich glücklich, dass er der Welt des Tempels angehört. Der Psalm schließt mit einer Rühmung des Gottes von Jerusalem, der den Ehrennamen Jahwe Sebaot („Herr der Heere“) trägt und „Sonne und Schild“ genannt wird (V.12). Die Rühmung mündet in einen Glückwunsch für die, die in ihrem Leben die Wege dieses Gottes und seiner Gebote gehen (V. 13).
Der motivreiche Psalm vermittelt gerade mit dieser Schlussaussage die Botschaft, dass jeder Pilgerweg eine Einübung des Lebensweges sein will; der verläuft im Alltag und besteht in der Annahme der Pflichten und Aufgaben füreinander. Der Weg zum Heiligtum und der Aufenthalt dort möchten uns dafür zurüsten.

Theodor Seidl